Keuschheit von kleinen Mädchen

Und als sie die Tränen von ihren Augen wischte, rief sie aus: „Oh, dass Mütter es bedächten, wie köstlich die Bescheidenheit und Keuschheit von kleinen Mädchen ist!

Annie half Frau Burnett Frühlings- und Sommerkleidung für ihre Kinder zu machen. Sie war im Herbst für zwei Wochen so fleißig und geschickt mit ihrer Nadel gewesen, dass Frau Burnett sie schon früh angenommen hatte, im Frühling nähen zu helfen. Eine Freundin hatte ihr etwas von der jungen Näherin und ihrem Leben erzählt. Annie war eine Insassin von Crit- tenton Heim, und obwohl ihr Baby schon drei Jahre alt war, blieb sie da und war der Oberin im Nähzimmer der Anstalt behilflich. Und weil sie eine stille, gut benehmende Frau war, wurde es ihr erlaubt, hin und wieder eine Woche sonst wo zu arbeiten, um etwas Geld für sich und ihr Kind zu verdienen.

Frau Burnett hatte Annie sehr schätzen gelernt. Sie merkte, dass dieses Mädchen geläu- tert, gut gebildet und in einem anständigen Heim erzogen war. Auch schätzte Annie die freundli- che, liebenswürdige Einstellung von Frau Bur- nett und tat ihr Bestes für sie. Eines tages, als sie im Nähzimmer saßen und die Kleider der kleinen Mädchen fertig machten, schaute Frau Burnett zum Fenster hinaus und merkte, dass ein Auto beim Tor der Nachbarn anhielt. „Schau, Annie, da ist Nina Wilson“, sagte sie. „Ist sie nicht sehr schön?“ Ein schlankes, zierliches Mädchen ging den Steg entlang und beide Frauen sahen ihr neugierig nach, bis sie ins Haus verschwand.

„Nina erinnert mich an eine zarte Rosen- blüte, die sich vor meinen Augen entfaltet“, sagte Frau Burnett.

„Wohnt sie in dem Haus neben Ihnen? Ich erinnere mich nicht, dass ich sie früher gesehen habe“, sagte Annie.

„Nein, das Heim gehört ihrem Onkel. Nina ist die Tochter des Richters Wilson, der auf Straße B wohnt. Sie ist ein Einzelkind, und ihre Eltern schätzen sie, als ob sie von Gold gemacht wäre“, sagte Frau Burnett mit einem lächeln.

„Ein reines und schönes Mädchen ist mehr wert als irgend ein irdischer Schatz“, sagte Annie leise.

„Sie ist sechszehn, das ausgezeichnete Alter eines Mädchens, wenn sie sich so schön in Frau- lichkeit entfaltet. Und doch ist es vielleicht die größte Prüfungszeit ihres Lebens, wo sie mehr als sonst die zärtliche und wachende Hilfe von einer weisen Mutter braucht. Oh, Frau Wilson ist mir hierin ein solch gutes Vorbild gewesen. Wenn meine eigenen kleinen Mädchen erst Ninas Alter erreicht haben, nehme ich mir vor, sollen sie in gleicher Weise bewacht werden“, sagte Frau Burnett.

Nach einer kurzen Unterbrechung schaute Annie Frau Burnett an und fragte: „Warum würden Sie warten, bis Ihre Töchter in voller Blüte der schönen Mädchenzeit sind, bis Sie ihnen die wachende Aufsicht erteilen, Frau Burnett? Warum geben Sie ihnen die Aufsicht nicht schon jetzt?“

„Warum doch, sie sind ja erst Kinder“, rief Frau Burnett in Überraschung aus. „Sie brau- chen solche Aufsicht jetzt nicht; dass ist, wenigs- tens nicht in derselben Weise.“

„Ich weiß, dass die meisten Mütter so den- ken, aber ich weiß auch, dass es ein großer Fehler ist“, sagte Annie traurig. „Wir haben die Angewohnheit, die Kindheit als eine sorgenlose, freudige Unschuld anzusehen, aber wir verges- sen, dass der Teufel genau so beschäftigt ist, den Kindern Versuchungen im Wege zu stellen wie den Erwachsenen.“

„Oh, ich weiß, dass Kinder versucht sind, Geschichten zu erzählen und ihren Eltern zu betrügen und sogar Dinge zu nehmen, die ihnen nicht gehören. Aber sicherlich, Annie, du kannst doch nicht glauben, dass die Tugend in einem kleinen Mädchen so in Frage kommt wie in einem Älteren“, sagte Frau Burnett.

„Vielleicht nicht. Ich meine jedoch, dass die Frage über die Keuschheit kleiner Mädchen oft aufs Spiel gesetzt wird“, sagte Annie. „Ich glaube, dass ein manches Mädchen, welches im Alter von sechszehn, achtzehn oder zwanzig in Sünde fällt, obwohl ihre Mutter eine liebevolle, bewachende Besorgnis hat, vor diesem furchtbaren Schritt bewahrt geblieben sein würde, hätte die Mutter ihr denselben Schutz und dieselbe Sorge erzeigt, als sie sechs, acht oder zehn Jahre alt war.“

Frau Burnett schaute der jungen Frau still an, zu überrascht um etwas zu sagen.

„Hören Sie mir zu, Frau Burnett“, sagte Annie. „Sie wissen, dass ich ein kleines vater- loses Kind da in der Anstalt habe. Aber Sie wis- sen keine Einzelheiten über meine Geschichte. Schmerzlich wie es auch ist, ich werde Ihnen die Geschichte erzählen, in der Hoffnung, dass sie Sie in Acht setzen wird für Ihre kleine Mäd- chen. Meine Mutter war eine gute Frau, aber sie wusste nicht, dass, von der Zeit an, wenn ein Mädchen anfängt mit anderen Kindern zu spie- len, jedes Jahr ihres Lebens kritisch ist. Nein, meine Mutter dachte genau so wie Sie, dass die Unschuld der Kindheit mich sicher durch die jungen Jahre bringen würde. Als die junge Frau-lichkeit anbrach, wurde sie liebevoll besorgt und wachsam. Aber es war zu spät. Ich hatte das Unrecht angefangen, als ich acht Jahre alt war.“

„Wie furchtbar!“, sagte Frau Burnett ent- setzt.

„Es ist nicht nötig, zu folgern, dass ich ein außergewöhnlich verdorbenes Kind war. Das war ich nicht. Aber ich hatte eine starke Neugier für die Heimlichkeiten des Lebens, genauso wie andere Kinder. Und weil es mir erlaubt war, frei mit den Jungen und Mädchen der Nachbarn zu spielen, auch für lange Zeiten auf einmal, im Obstgarten, im Wald und in dem großen Stall auf dem Wohnort meiner Eltern, hatten wir Kin- der viele Gelegenheiten, Dinge zu sagen und zu tun, an denen unsre Eltern nie gedacht hätten. Und doch“, sagte das Mädchen mit einem bit- teren lächeln, „habe ich gehört, wie die Mütter in unsrer Nachbarschaft sich freuten, dass wir Kinder solch einen sichern Platz zum spielen hatten, wie der große, alte Stall meines Vaters, mit den vielen Abteilungen und die Dachkam- mer voll frisches, reines Heu.“

Hiermit machte Frau Burnett eine hastige Bewegung, als ob sie von ihrem Stuhl aufstehen wollte, und ihre Augen sahen unruhig auf der Garage, ein Lieblingsspielplatz für die Kinder und ihre Freunde. Aber sie sank wieder zurück, als Annie ihre Geschichte fortsetzte.

„Sicherlich wussten wir es, dass wir sehr unartige Kinder waren, aber der Teufel flüsterte uns ein, dass es nicht so viel ausmacht, was Kinder tun, wenn sie jung sind; dass wir nicht mal an solche unartigen Dinge denken würden, wenn wir erst älter wären, sondern würden nur liebenswür- dig, schön und gut sein wie die erwachsene junge Frauen, die wir kannten. Dieses ging so ab und zu weiter für mehrere Jahre. Als ich zwölf Jahre alt war, fing ich an, zu erkennen, dass es gar nicht so leicht war, ein liebenswürdiges, keusches Mäd- chen zu sein, als ich gedacht hatte. Ich hatte ein großes Verlangen danach, aber die Erinnerungen an den hässlichen Dingen, die wir getan hatten, schlugen mich nieder. Ich fühlte, ich könnte nie so sein wie die Mädchen, die keine schwarzen Fle- cken hatten, weil sie bessere Fürsorge empfangen hatten. ‚Was macht es aus, jetzt noch versuchen liebenswürdig und keusch zu sein?‘, fragte ich mich selber. ,Ich bin anders und nichts kann diese Wirklichkeit ändern.‘ Ich wurde gleichgültig und Sie wissen das Übrige von der Geschichte.“

Inzwischen weinte die junge Frau, und als sie die Tränen von ihren Augen wischte, rief sie aus: „Oh, dass Mütter es bedächten, wie köstlich die Bescheidenheit und Keuschheit von kleinen Mädchen ist! Wenn sie es wüssten, würden sie nicht so achtlos darüber sein und es für selbst- verständlich annehmen. Sie scheinen zu denken, dass des Kindes Keuschheit nur eine Frage der Zukunft ist. Aber es ist nicht wahr, es ist eine Frage der Gegenwart. Weil Eltern dieses nicht erkennen, werden Kinder unbewacht zusammen gelassen und die Sünde ist viel häufiger unter ihnen, als sie es sich vorstellen können. Ich will noch ein Ding sagen, Frau Burnett, welches mir vielleicht die Freundschaft mit Ihnen kosten wird. Die Kleider, die Sie für Dorothy und May gemacht haben, sind nicht bescheiden. Oh, ich weiß dass die in Mode sind, aber ich glaube von ganzem Herzen, dass der Satan mit den Moden für kleine Mädchen heutzutage aufkommt. Ich bin nicht überrascht, dass die weltliche Men- schen von solchen Moden geleitet werden, aber was ich nicht verstehen kann, ist, dass ihr christ- liche Mütter ihnen gleich seid und euren klei- nen Mädchen nur halb bekleidet, weil es Mode ist. Da ist May, zwölf Jahre alt und groß für ihr Alter. Es ist ganz natürlich, dass sie in Ihren Augen noch nur ein Kind ist, aber sie sieht nicht so aus für andere Menschen. Sie entwickelt sich schnell und wird bald von der Kindheit in die junge Fraulichkeit übergehen. Doch zwischen ihren Socken und den kurzen Kleidern, die wir jetzt fertig machten, ist eine lange Strecke von nackten Beinen, bis zur Hälfte der Taille. Die von Dorothy sind noch ärger. Ihre beiden Kleider haben nicht mal Ärmel und sie sind tief ausge- schnitten. Dorothy ist nur sechs Jahre alt, aber Frau Burnett, wie können Sie glauben, dass sie als ein keusches, junges Mädchen heranwachsen wird, wenn sie ihre ganze Lebenszeit gewohnt ist, den größten Teil ihres Körpers dem Blick- punkt der Öffentlichkeit bloßzustellen? Men- schen haben heutzutage viel über die unkeusche Kleidung von Frauen und Mädchen zu sagen, aber ich glaube, dass die am meisten unziemlich gekleideten unter uns die gewöhnlichen Ameri- kanischen Mädchen sind, ob sie sechs sind oder zwölf“, rief Annie aus, ihre Augen hell mit tie- fen Gefühlen. „Ich habe noch nur einen Prediger über dieses Thema reden gehört – die andere sind damit beschäftigt, den älteren Mädchen und Frauen über unsittliche Kleidung zu ermah- nen. Aber dieser Mann sagte, dass der Älteren Problem auf ihre Kindheit zurückgeht; dass er nicht wüsste, wie es möglich sei, aus halb nack- ten kleinen Mädchen sittsame junge Mädchen zu machen. Und wenn eine Mutter unachtsam den heutigen Moden nachgeht in dem Bekleiden von ihren Töchtern, machte sie ihren bloßgestellten kleinen Körper das Ziel des Mädchenhändlers (ein Mensch, der Mädchen entführt und sie in der Prostitution benutzt) schon im Alter von sechs Jahren.“

Es herrschte für kurze Zeit eine Stille zwi- schen den Frauen. Frau Burnett war ernsthaft und nachdenklich, und die Aufregung war aus Annies Gesicht verschwunden. Endlich sagte sie leise: „Die Zeit wird kommen, denke ich, dass mein Mädchen es von jemand lernen wird, dass ihre Mutter nicht immer eine gute Frau gewe- sen ist. Aber, durch die Gnade Gottes, soll sie niemals sagen können, dass ich eine unacht- same Mutter gewesen bin, denn ich nehme mir vor, ihre Keuschheit als das köstlichste Ding auf Erden zu bewachen, nicht nur die Keuschheit von ihrer jungen Fraulichkeit, aber auch von ihrer Kindheit. Und weil ich will, dass sie ein bescheidenes und tugendhaftes Kind sein soll, werde ich ihr nicht Kleider anziehen, die ihren Körper nur halb bedecken.“

„Ich glaube, du wirst eine kluge und gute Mutter sein, Annie“, sagte Frau Burnett, „und es gibt keine Ursache, warum ich das nicht auch sein sollte. Ich gehe für einige Minuten hinaus, um zu sehen, was die Kinder tun.“ An der Tür hielt sie an und schaute zurück. „Während ich weg bin, darfst du anfangen, die Säume der Kleider aufzutrennen. Wir werden die Kleider länger machen, sodass sie die Knie der kleinen Mädchen bedecken“, fügte sie hinzu.

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